Gedenkbuch 2006

Carl Bernstein

Von Erica Prean, Großbritannien

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Mein Großvater wurde in Menden/Westfalen am 17.3.1875 geboren. Er war eines von sechs Kindern von Nachman Bernstein (Menden) und Helene Mayer (Rietberg/Westfalen). Ein älterer Vorfahre war David (1757–1850) (Juden hatten keine Nachnamen, bis Napoleon ihnen Zivilrechte und Nachnamen gab), der Kapitelmeister des Adeligen Damenstifts in Frönderberg war.

Die Eltern meines Großvaters starben, als er etwa 14 Jahre alt war. Sie hinterließen ein Haus in Menden, aber kein Geld. Der älteste Junge beging Selbstmord, als er entdeckte, dass er nicht zur Universität gehen konnte. Ich weiß seinen Namen nicht. Carl wurde Lehrling in einem Textilgeschäft, um seine Schwestern Rosalie, Sarah, Bella und Paula zu unterstützen. Nachts schlief er unter dem Ladentisch. Er half seinen Schwestern finanziell bis zum Ende. Ich erinnere mich, dass die Kohle aus Westfalen kam, da er diese von seiner Schwester kaufte.

Ich weiß nicht, wann Carl nach Aachen kam. Ich vermute, er fand dort Arbeit, möglicherweise bei seinem zukünftigen Schwiegervater. Carl war ein Selfmademan; ehrlich und geschäftstüchtig. Er hatte einen großen Sinn für Gerechtigkeit und kämpfte für seine Rechte und die Rechte anderer.

Meine Großeltern waren nicht in allem gleich. Er hatte einen großartigen Sinn für Humor, ein schnelles Temperament, war eigensinnig, während seine Frau Emmy sanft und kunstverständig war. Er spielte Skat und sprach Französisch und leidlich Englisch. Er liebte Worte und dichtete Verse, üblicherweise lustige Gedichte. Wir saßen oft am Mittagstisch und sprachen nur in Reimen, was ein Spaß war.

Seine Tochter Ellen wurde am 31.8.1906 und meine Mutter Ilse am 22.5.1908 geboren. Er diente im Ersten Weltkrieg, hauptsächlich als Kurier, der Gefangene zur und von der Front transportierte. Das waren deutsche Soldaten, manchmal Kriminelle, er bekam diese Aufgabe, weil er die Grenze genau kannte und keine Sprachprobleme hatte. Wegen der alliierten Blockade litt die deutsche Bevölkerung Hunger. Er war oft in der Lage, Lebensmittel zu seiner Frau und seinen Kindern mitzubringen, weil er hin und her reiste. Wenn das Fleisch madig war, legte meine Großmutter es auf eine Platte aus Marmor, dann wurde es gründlich gekocht. Emmy hielt Hühner im Hinterhof ihres Hauses.

Der Krieg endete für ihn plötzlich. Er war im November 1918 im Dienst im Aachener Wald. Er sah den Kaiser und sein Gefolge – viele Wagen, erzählte er mir – auf die Grenze zufahren. Er alarmierte seinen vorgesetzten Offizier und erzählte ihm, dass die Alliierten am Morgen ankommen würden, er eine kurze Strecke entfernt wohne, und dass, wenn der Offizier noch bei Sinnen sei, er mit ihm kommen und Zivilkleidung anlegen solle. Der Offizier wurde schließlich überredet und beide begrüßten die Alliierten in Zivil. Ich hörte diese Geschichte, und viele mehr, auf unseren Sonntagmorgenspaziergängen zur Post, um seine Briefe aus dem Schließfach zu holen.

Nach dem Krieg baute Carl seine Firma "Mayer und Stern. Tuch EnGros" auf. Er reiste zwei- bis dreimal im Jahr nach England, um die besten wollenen Anzugstoffe zu kaufen. Das Geschäft wurde vom Erdgeschoss seines vierstöckigen Hauses aus geleitet. Es gab ein Lager (in der Form eines L) hinter dem Haus. Er beschäftige eine Sekretärin, Frau Adele Saedler, zwei Buchhalter und Männer im Lager. Er hatte einen Ford, fuhr aber nicht selber. Sein Chauffeur erledigte ebenfalls das Packen seines Stoffes und brachte das Gepäck zum Bahnhof. Er beschäftigte Händler, um seinen Stoff zu verkaufen, aber er besuchte Kunden auch selbst. Manchmal fuhr meine Mutter ihn anstatt des Chauffeurs.

Carl war ein echter Pater Familias für seine umfangreiche Familie und seine Beschäftigten. Nach dem Krieg traf ich viele Leute, die mir erzählten, er hätte ihnen geholfen, ihr eigenes Geschäft aufzubauen. Mein Großvater hielt sein Geschäft entgegen alle Wetten aufrecht, bis zum Dezember 1938, wo er es auflöste. Er sagte, kein Nazi würde sein Lebenswerk übernehmen.

Das Traurigste für ihn war, hilflos zu sein, wo er doch immer Lösungen für jedermanns Probleme gefunden hatte.

1940 wurde das Haus meiner Großeltern in der Mittelstraße 3 ein "Judenhaus". Meine Großmutter schrieb mir am 26.2.1940: "Wir wohnen jetzt in Deinem früheren Schlafzimmer, da alle Räume unten vermietet sind". Ein anderes Mal schrieb sie, dass sogar das Badezimmer besetzt war. Adele Saedler besuchte meine Großeltern in ihrem Haus in der Mittelstraße weiterhin, ungeachtet jeden Risikos für sie selbst. Möglicherweise wurden sie in das Lager am Grünen Weg gebracht. Unser früheres Hausmädchen, Frau Anna Leiding, hatte die Courage und den Anstand, die Erlaubnis zu beantragen, sie einmal die Woche zu besuchen. Meine Großeltern hatten tatsächlich einen Raum für sich alleine, und meinem Großvater war es erlaubt, für die anderen Insassen einmal in der Woche in der Stadt einzukaufen. Der arme Mann war dankbar, wenn jemand seinen Hut zog und ihn grüsste, während er durch die Stadt wie ein Sträfling spazierte.

Meine Großeltern wurden in einen Zug gesetzt für die lange Reise "nach Osten" – Izbica, glaube ich – mitten in einer Nacht im Jahr 1942. Frau Leiding ging zum Bahnhof und winkte. Sie hatte etwas Geld in das Korsett meiner Großmutter eingenäht – ohne Zweifel ihr eigenes!, in der Hoffnung, ihnen zu helfen.

Nach einer Mitteilung des Roten Kreuzes, die meine Tante mir am Telefon nach dem Krieg vorlas, wurden sie in Lastwagen vergast. Ich glaube, das muss in Chelmno gewesen sein – Sobibór kam erst später. Mein Großvater war 67 Jahre alt. Er war mein VATER, und ich liebte ihn aufrichtig.

Meine Tante Ellen verließ Deutschland 1938. Meine Mutter Ilse und ich verließen Aachen im Juni 1939.

Alle Schwestern meines Großvaters wurden mit ihren Familien ermordet, ebenso wie die Mitglieder der Familien meiner Großmutter Mayer und Pelzer, wir haben 39 Tode gezählt.