Netta Heumann geborene Kaufmann
Von Jutta Kreus-Barth und Bruno Kreus, Aachen
Netta Heumann wurde am 10. Oktober 1877 um vier Uhr nachmittags als dritte Tochter der Eheleute David Kaufmann und Lisette, geborene Löb, in Brand, im Ortsteil Rollef geboren. Wie die Geburtsurkunde mit der Nummer 77 belegt, wurde ihre Geburt von ihrem Vater, der von Beruf Handelsmann und Metzger war, am 13. Oktober des Jahres 1877 auf dem Standesamt in Brand angezeigt.
Nettas Vater, David Kaufmann, stammte aus einer seit Generationen in Kornelimünster ansässigen jüdischen Familie. Dort wurde er am 16. Dezember 1848 geboren. Er hatte eine Metzgerei in Brand an der heutigen Trierer Straße. Er starb im Jahr 1917 in Brand. Nettas Mutter Lisette starb am 10. Dezember 1926 in Segendorf bei Neuwied.
Als ältere Schwestern von Netta sind Frederika und Caroline bekannt. Die drei Jahre ältere Frederika wurde am Silvestertag des Jahres 1874 geboren und starb bereits im Alter von sechs Jahren. Caroline war ein Jahr älter als Netta und wurde am 13. Juni 1876 geboren. Sie starb im Jahr 1933.
Netta Kaufmann heiratete am 22. Dezember 1903 den Viehhändler Adolph Heumann aus Wassenberg. Netta und Adolph wohnten an der heutigen Freunder Landstraße 58, früher Stolberger Straße, in einem Haus, das von Nettas Eltern erbaut worden war.
Am 3. Februar 1908 wurde ihre erste Tochter Hilda in Brand geboren, am 8. September 1911 die zweite Tochter Erna ebenfalls in Brand. Netta und Adolph Heumann betrieben Landwirtschaft mit Obstanbau und Viehhaltung. Adolph Heumann handelte außerdem mit Vieh und Landprodukten.
Familie Heumann lebte in guter Nachbarschaft. Die Töchter Hilda und Erna besuchten die Volksschule in Brand und hatten dort auch ihren Freundeskreis. Hilda heiratete mit 22 Jahren am 4. Mai 1930 in Brand den am 7. Dezember 1909 in Baku (Russland) geborenen Simon Borkowski.
Nettas Ehemann Adolph verunglückte am 17. Oktober des Jahres 1931 mit seinem Geschäftswagen am Haarener Berg und starb noch am gleichen Tag im Forster Krankenhaus. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Kornelimünster in einer Familiengrabstätte beigesetzt, wo auch das Grab für seine Frau vorgesehen war. Josef Krott, ein Nachbar der Familie Heumann erzählte: „Wäre er nicht beim Unfall gestorben, so wäre er sicherlich einer der Ersten gewesen, den man weggeholt hätte." Er berichtete außerdem, dass Adolph den Nazis gegenüber immer selbstbewusst aufgetreten sei und sich auch nicht gescheut habe, offen Kritik zu äußern. Bei der Auseinandersetzung von Nationalsozialisten im Juli 1926 in Kornelimünster mit der aufgebrachten jüdischen Bevölkerung, der so genannten „Judenschlacht", soll er aktiv mitgewirkt haben.
Tochter Erna heiratete am 17. April 1937, sieben Jahre später als ihre Schwester, in Brand den aus Köln stammenden Adolf Heumann. Die Gleichheit von Vor- und Nachnamen von Schwiegervater und Schwiegersohn ist äußerst ungewöhnlich, jedoch - soweit bekannt – zufällig. Die Familien waren nicht miteinander verwandt.
Durch den Tod von Adolph Heumann 1931 war die wirtschaftliche Situation der Familie stark geschwächt. Die Witwe Netta Heumann reduzierte nun die Landwirtschaft und verpachtete zunächst einige Flächen an Freunder Landwirte. Im Juni des Jahres 1938 verkaufte sie erstmalig Teile ihres Grundbesitzes an die Gemeinde Brand, um eine Grundschuld bei der Aachener Synagogengemeinde zu tilgen.
Aus der Not und wegen der zunehmend judenfeindlichen Stimmung verfolgte Netta stärker den Gedanken, auch den übrigen landwirtschaftlichen Grundbesitz zu veräußern, um ihren Kindern die Ausreise nach Amerika zu ermöglichen. Am 6. Dezember des Jahres 1938 sollte ein weiterer Kaufvertrag mit der Gemeinde Brand über eine Grundstücksfläche beurkundet werden, welche diese zur Errichtung des geplanten neuen Friedhofes in Brand und der Zuwegung dorthin, der heutigen Kolpingstraße, dringend benötigte. Da es sich bei dem Land von Netta Heumann aber durch die Verordnung über den Einsatz von jüdischem Vermögen vom 3. Dezember 1938 um verfallenes Judenvermögen handelte, wurde nun die Fläche von der staatlichen Treuhandstelle „Rheinisches Heim" in Bonn verwaltet. Netta Heumann war damit praktisch enteignet.
Entgegen den kassenrechtlichen Vorschriften und im Interesse der Ausreise ihrer Kinder waren ihr jedoch von der Gemeinde Brand bereits im November 1938 bis Februar 1939 in acht Raten insgesamt 3.126,40 Reichsmark ausgezahlt worden.
Gemeindeinspektor Leo Hanbücken notierte in seinem Tagebuch:
„8. Januar 1941
Die Jüdin Heumann erklärte mir, daß sie der Aufforderung zur Übertragung der Grundstücke an das „Rheinische Heim" für nur 400 RM nicht nachkommen könne.
16. April 1941
Ich habe eine längere Unterredung mit der Jüdin Heumann, deren [weitere] Grundstücke [zur Errichtung der neuen Friedhofsanlage] nunmehr im Wege des Austausches erworben werden. Die Jüdin berichtet durch Heimarbeit ein Einkommen zu finden."
Im Mai 1941 verließen Tochter Erna und Schwiegersohn Adolf Heumann von Berlin aus Deutschland. Sie hatten sich bereits am 27. April 1937 aus Brand abgemeldet und waren nach Köln gezogen. Über Russland und Asien, wo sie mit circa 24.000 europäischen Juden gezwungen waren, fünf Jahre in Shanghai auszuharren, gelang ihnen Anfang des Jahres 1947 die Einreise in die USA. Sie ließen sich in Rock Island nieder. In Iowa wurde am 30. Juli 1948 ihre Tochter Joanne geboren. Joanne lebt heute in Houston und sagte, dass ihre Eltern niemals über ihr Leben in Deutschland und ihre zurückgelassene Familie gesprochen hätten.
Netta wurde am 25. Juli 1941 zusammen mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin in das Lager Hergelsmühle gebracht. Vorher verschenkte Netta Teile ihres Hausrates an Bekannte. Einzig von ihrem Küchenherd, der ihr ein und alles war, wollte sie sich nicht trennen.
Dazu schrieb der Gemeindeinspektor Leo Hanbücken in sein Tagebuch:
„25. Juli 1941 Die Juden [Heumann und Mathes] wurden aus ihren Wohnungen geholt und in Haaren in Notquartieren untergebracht. Jede jüdische Familie hat nur ein Barackenzimmer, zigeunerhaft mutet die Art der Unterbringung an. Dementsprechend spielen sich aufregende Szenen bei der Herausnahme der Juden ab.
31. Juli 1941
Die Jüdin Heumann ließ eine Forderung zugunsten der Gemeinde Brand vor dem Notar J. eintragen. Sie war vom Lager für 2 Stunden beurlaubt und hatte einen Wunsch: die Überlassung ihres Küchenherdes.
2. August 1941
Die Jüdin Heumann erscheint wegen ihres Küchenherdes, der ihr widerrechtlich vorenthalten worden ist. Der Bürgermeister will sich noch entschließen.
15. August 1941
Der von den Juden verlassene Hausrat ist gestern festgestellt worden, die verlassenen Wohnungen werden instandgesetzt, um anderwärts vermietet zu werden. Die Wohnungsnot ist bereits sehr groß."
Die Herausgabe des Küchenherdes wurde ihr zunächst seitens des NS-Bürgermeisters Rong verwehrt. Der Initiative des ihr wohlgesonnenen Gemeinde-Oberinspektors Hanbücken ist es zu verdanken, dass ihr der Herd doch noch ins Lager Hergelsmühle gebracht wurde, so berichtet Tina Mathes, welche mit der Familie Heumann die gleiche Baracke bewohnte, in einem Brief an ihren Sohn Alex, der sich in einem französischen Internierungslager befand. Am 15. Juni 1942 wurden alle Insassen des Lagers Hergelsmühle Richtung Osten nach Izbica deportiert. Izbica war ein Transit-Ghetto in der Nähe von Lublin im Generalgouvernement-Polen.
Netta Heumann wurde wahrscheinlich im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Sie wurde durch Beschluss des Amtsgerichtes Aachen vom 1. April 1949 mit Datum 8. Mai 1945 für tot erklärt.
Nettas Tochter Erna schreibt während dieser Zeit in ihr Tagebuch : "[] das was ich schon immer befürchtet habe, ist wahr geworden, liebe Mutter, Hilda und kleine Inge sind fort, wohin, ich kann es nicht weiter schreiben. Ich bin so beunruhigt über sie.
[] Endlich am 12. Dez. 1942 erhielten wir Neuigkeiten von unseren Lieben. Louise schreibt, daß unsere liebe Mutter, Hilda und die kleine Inge in Polen sind. [] Unsere Gedanken sind mit unseren Lieben, jeden Tag und jede Nacht, wie es ihnen wohl geht. Bis jetzt haben uns keine Neuigkeiten von Polen erreicht für irgendjemand hier."
Fotos: - Netta Heumann mit Hund. - Die Töchter Erna Heumann und Hilde Borkowski mit Hunden, ca. 1939. - Netta und Adolph Heumann mit Hund. - Schwiegersohn Adolf Heumann, Hilde Borkowski, Netta Heumann, kniend Erna Heumann, Ingeborg Lisette Borkowski am 29. August 1939. Alle Fotos privat, mit freundlicher Genehmigung von Joanne Heuston, Iowa, USA.
Geburtsurkunde Nr. 77 Heiratsurkunde 24 BI Tagebücher im Besitz des Heimatkundlichen Arbeitskreises im Bürgerverein Brand Vergleiche die Biographie von Hilde, Simon und Ingeborg Borkowski in diesem Band. Tagebücher im Besitz von Joanne Heuston.