Anne Frank
Holger Dux, Aachen
Heute stehen die Zeitungen voll von Berichten über einen Baum in Amsterdam. Behandelt wird eine mächtige Kastanie, um deren Schicksal sich normalerweise keiner kümmern würde. Wenn es nicht ausgerechnet der Baum wäre, der im Hof des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam steht. Anne soll oft, wie man in ihrem Tagebuch nachlesen kann, träumend in die Krone des Baumes geblickt haben. Das war in den langen Monaten, als sie mit Verwandten und Bekannten in den engen Räumen des Hinterhauses in der Prinzengracht ausharren musste. Diese acht Menschen hatten tagsüber keine Gelegenheit, um auch nur für eine Minute an die frische Luft zu gehen.
Das war in der Zeit nach dem 06. Juli 1942. Bis dahin hatte sich im Leben von Anne Frank viel ereignet. Mancher würde sagen, dass es zuviel war für das Leben einer jungen Frau, die damals gerade 13 Jahre alt geworden war und nur noch drei Jahre zu leben hatte.
Anne Frank war die zweite Tochter von Otto Frank. Dieser lebte als gut situierter Bürger in Frankfurt am Main und führte dort das Bankgeschäft der Eltern. Vielleicht waren es die geschäftlichen Beziehungen, die ihn in Kontakt mit den Schwiegereltern Holländer in Aachen gebracht hatten. Denn Anne ist zwar keine Aachenerin, hatte hier jedoch einen Teil ihrer Wurzeln. Ihre Mutter Edith war hier am 16. Januar 1900 geboren worden. Damals lebten deren Eltern, Abraham Holländer (1860-1928) und Rosa Holländer (1866-1942), geborene Stern schon einige Jahre in der Kaiserstadt. Sie waren aus Aldenhoven hierhin gekommen, um das vom Urgroßvater von Anne Frank 1858 gegründete Geschäft, einen Eisen- und Altwarenhandel, auszubauen. Bis auf ihre Oma und die beiden Brüder der Mutter, Julius (1894-1967) und Walter (1897-1968), hat Anne ihre Aachener Verwandten nicht mehr kennen gelernt. 1928 war der Großvater Abraham, ein angesehener Aachener Bürger und engagiertes Mitglied in der Jüdischen Gemeinde, verstorben.
Annes Eltern heirateten 1925 in der Aachener Synagoge. Mit den zahlreichen Verwandten feierte man im „Hotel Grand Monarch“ am Büchel. Anschließend fuhr das junge Paar mit den Eltern der Braut auf Hochzeitsreise nach Palermo. Wieder zurück in der Heimat ließen sie sich dann in Frankfurt am Main nieder. Nach der Geburt von Annes älterer Schwester Margot am 16. Februar 1926 beschlossen die Eltern, dort eine eigene Wohnung am Marbachweg 307 zu mieten.
Damals ahnten die meisten noch nicht, welche politischen Veränderungen in Deutschland sich bereits am Horizont abzeichneten. Die Nationalsozialisten entwickelten sich von einer verbotenen Splittergruppe zu einer gefährlichen politischen Größe, die nach und nach in den Parlamenten immer mehr Sitze eroberte.
Anne wurde am 12. Juni 1929 geboren. Von den alltäglichen Sorgen der Eltern, dem Wunsch nach einer größeren Wohnung und den geschäftlichen Problemen hat sie natürlich nichts mitbekommen. Dafür war sie noch viel zu klein. Bei Familientreffen stand die Kleine im Mittelpunkt und wurde als Nesthäkchen bewundert und „verhätschelt.“
Otto Frank gehörte zu den wenigen, die erkannten, was es bedeutet, als am 30. Januar 1933, Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Überall zogen die Nationalsozialisten in die Stadtparlamente ein. In Dachau richtete man das erste Lager für politische Gegner ein. Zwei Monate später kam es zum ersten großen Schlag gegen die Juden. Ihre Geschäfte wurden boykottiert und mussten schließen. Uniformierte Parteiangehörige marschierten mit klingendem Spiel auch durch die stillen Wohnstraßen. Daraufhin hielt es die Franks nicht mehr in Deutschland.
Weil die Niederlande im Ersten Weltkrieg neutral gewesen waren und Otto Frank Amsterdam schon während seiner Studienjahre kennen gelernt hatte, glaubte er, dort ein sicheres Nest für seine Familie aufbauen zu können.
Der Weg der Franks führte natürlich über Aachen. Edith, die stets den Kontakt zu ihren hier lebenden Verwandten beibehalten hatte, blieb in diesen aufwühlenden Zeiten des Aufbruchs bei ihrer Mutter. Schweren Herzens harrte sie in Aachen aus, das nur ein paar Kilometer von der rettenden Grenze zu den Niederlanden entfernt war. Hier wartete sie auf den erlösenden Anruf aus Amsterdam, der ihr mitteilte, dass ihr Mann dort Arbeit und eine Wohnung gefunden hätte. Wie Anne diese Zeit verbrachte, kann man nur vermuten. Sicher hat sie mitbekommen, dass ihre Mutter immer häufiger zum Bahnhof begleitet werden musste. Otto, der ganz mit dem Aufbau einer Filiale der „Opecta“ beschäftigt war, blieb kaum Zeit für Behördengänge und Wohnungssuche. Seine Frau musste ihn hierbei unterstützen.
Die beiden Mädchen Margot und Anne blieben bei der Oma. Höchstwahrscheinlich gingen sie hier in den Kindergarten. Der lag an der Passstraße und war bequem und sicher durch den Kurpark in wenigen Minuten zu erreichen.
Zu dieser Zeit lebten die Holländers schon nicht mehr in der Villa in der heutigen Elsa-Brandström-Straße 5 am Fuße des Lousbergs. Sie hatten eine große Wohnung im Haus Monheimsallee 42 - 44 gefunden. Das war eine noble Adresse in der Nachbarschaft des neuen Kurhauses. An der Stelle des nach 1945 nicht wieder aufgebauten Hauses steht heute ein Gedenkstein aus dem Projekt „Wege gegen das Vergessen.“
Anne blieb ungefähr ein halbes Jahr in Aachen. Zum Geburtstag ihrer großen Schwester war die Familie in Amsterdam endlich wieder vereint. Dort lebten sie in einer Neubauwohnung am Merwedeplein 37. Die Franks erlebten die Amsterdamer Jahre ganz unterschiedlich. Der Vater war vollständig in das Geschäftsleben eingebunden und hatte vielfältige Kontakte zu Lieferanten und Kunden. Anne und Margot besuchten Kindergarten und Schule und fanden schnell Anschluss an die Spielkameraden im eigenen Wohnviertel. Sie lernten schnell die neue Sprache und konnten perfekt niederländisch schreiben und sprechen. Nur die Mutter Edith konnte sich mit den neuen Verhältnissen wenig anfreunden. Zeitlebens blieb sie eine Fremde in der Fremde und zog sich mehr und mehr zurück. Höhepunkte blieben für sie die Besuche bei ihrer Mutter in Aachen. Noch waren die Grenzübertritte von den Niederlanden nach Deutschland ohne größere Probleme möglich. Also war es selbstverständlich, einen Teil der Ferien in Aachen zu verbringen. Anne fuhr mit Onkel Julius und Onkel Walter im Auto spazieren. Mit der Oma machte sie Ausflüge in die Stadt. In der Straßenbahn soll sie einmal ganz selbstbewusst einen Sitzplatz für ihre alte Oma eingefordert haben. Einige der Ansichtskarten, die sie an ihre Freundinnen zu Hause schrieb, sind sogar erhalten geblieben.
Im Jahr 1935/36 hatte die Oma noch einmal umziehen müssen. Auch wenn diese Wohnung in einem Neubau lag, so war der Pastorplatz eben nicht mehr die Monheimsallee. Gegenseitige Besuche waren ab Mai 1938 fast unmöglich geworden. Die Niederlande hatten ihre Grenzen für alle jüdischen Flüchtlinge geschlossen.
Auch der Alltag wurde immer komplizierter. In der Nacht vom 09. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. Junge Männer aus den Familien der Wohlhabenden wurden verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Nur wegen seiner Verletzung aus dem ersten Weltkrieg wurde Julius Holländer wieder freigelassen. Er machte sich sofort daran, die Auswanderung seiner Familie nach Amerika zu organisieren. Ihm gelang sogar die Entlassung seines Bruders Walter aus dem Lager Buchenwald.
Doch seine Mutter, inzwischen 67 Jahre alt und krank, wollte sich die Schiffspassage nicht mehr antun. Sie zog es vor, zu ihrer Tochter in Amsterdam zu fahren. Über das Leben in Amsterdam berichtet Anne ausführlich in ihrem Tagebuch. Sie führte es seit ihrem 13. Geburtstag, den sie noch mit ihren Freundinnen feiern durfte. Das Tagebuch war zuerst nur ein Heft mit persönlichen Erinnerungen. Es blieb erhalten und erschien in den 1950er Jahren erstmals in verschiedenen Sprachen. Das Tagebuch ist eines der ersten authentischen Dokumente, durch das weite Kreise der Bevölkerung Genaueres von den Vorgängen der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten erfuhren.
Am 10. Mai 1940 waren die deutschen Soldaten auch in die Niederlande eingefallen. Otto Frank, der mit einer Handvoll Mitarbeitern ein Handelsunternehmen für Geliermittel und Gewürzzusätze führte, bezog im Dezember 1940 ein neues Büro- und Lagerhaus an der Prinzengracht 263.
Mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten änderte sich das Leben der jüdischen Bevölkerung von Amsterdam. Auch die Franks mussten nun auf ein Telefon verzichten, durften keine Straßenbahnen benutzen und nur noch bestimmte Kinos und Lokale besuchen. Anne berichtet von einer Milchbar, in der sie sich nach der Schule mit Freunden traf. Anne und Margot mussten außerdem die Schule wechseln und gingen seither auf eine jüdische Mädchenoberschule.
Noch vor der „Wannsee-Konferenz“ am 20. Januar 1942, bei der die systematische Vernichtung aller Juden in Europa beschlossen worden war, mussten alle Juden in der Öffentlichkeit einen gelben Stern tragen. In ihren Wohnquartieren fanden abends und nachts Razzien statt. Am 14. Juli 1942 rollten die ersten Transporte ins niederländische Lager Westerbork.
Anne erinnert sich in ihrem Tagebuch an diese Zeit voller Angst. Ihre beste Freundin sah sie noch einmal zum Abschied. Später quälten sie Alpträume, dass sie ihr nicht hatte helfen können. Wenige Tage später löste ein offizieller Brief bei der Familie Frank Panik aus. Doch der Brief war nicht an den Vater, das Haupt der Familie, sondern an Margot gerichtet. Sie sollte sich unverzüglich zu einem Arbeitsaufenthalt in Deutschland melden.
Der Brief gab den Ausschlag für das Untertauchen der Familie. Ob Otto schon beim Bezug des Hauses an der Prinzengracht daran gedacht hatte, dass seine Familie, bei seiner Arbeitsstätte, unbeobachtet von der Öffentlichkeit, im Hinterhaus würde leben können, ist eine Vermutung. Auf jeden Fall hatte er sich schon länger mit der Vorbereitung des Verstecks beschäftigt. Anne kritisierte einmal lautstark, dass immer mehr Gegenstände aus der Wohnung, Teppiche, Möbel und Bücher, verschwanden.
Im Morgengrauen des 06. Juli 1942 brach die Familie am Merwedeplein auf, um unerkannt durch das Gewimmel der Großstadt bis in die Prinzengracht zu kommen. Der Weg zu Fuß war weit. Die Straßenbahn durften sie wegen der Kontrollen auf keinen Fall benutzen. Man hat die Bilder vom plötzlichen Aufbruch aus den Verfilmungen vor Augen. Kurz davor, die Nerven zu verlieren, versucht Edith, die Fäden in der Hand zu halten. Aber ihre beiden Töchter scheren sich nicht um warme Wäsche und Schulbücher, sondern stecken lieber ihre persönlichen Erinnerungsstücke in die Tasche. Besonders hart ist es für Anne, dass sie ihre Katze nicht mitnehmen darf.
Anne schreibt nun fast täglich in ihr Tagebuch und hält so auch alltägliche Bedeutungslosigkeiten und Kleinigkeiten fest. So ist das Tagebuch von einem sehr persönlichen Schriftstück zu einem Zeitdokument geworden. Unzählige Menschen lesen es auch heute noch und nehmen somit Anteil am Leben der jungen Frau.
In Amsterdam bleibt das Haus in der Prinzengracht erhalten und konnte mit Hilfe einer Stiftung zu einem Museum und einer Begegnungsstätte ausgebaut werden. Jeder, der heute die Räume betritt, wird das Gefühl nicht los, dass die Räume ziemlich klein und beengt sind. Und das, obwohl fast alle Möbel und Einrichtungsgegenstände verschwunden sind. In diesen Räumen hat Anne gelebt, vom 09. Juli 1942 bis zum 04. August 1944. Das sind genau 757 Tage. Aber dort war sie nicht alleine. Zuerst war sie dort mit den Eltern, mit Otto und Edith und der Schwester Margot. Eine Woche später kamen Hermann, Auguste und Peter van Pels hinzu. Ein paar Monate später musste man noch wegen Fritz Pfeffer ein weiteres mal zusammen rücken.
Die Situation war häufig nur schwer zu ertragen. Überall herrschte eine große Enge. Wollte man einmal ein paar Augenblicke alleine sein, gab es dafür fast keine Möglichkeit. Dazu kam außerdem das Gefühl, eingesperrt zu sein. Man durfte nicht laut durch die Zimmer laufen und auch nicht husten. Hinausgehen an die frische Luft war verboten. Weil man noch nicht mal ans Fenster gehen konnte, um das Geschehen auf der Straße zu beobachten, fühlten sich alle vom Alltag abgeschlossen. Die nervliche Belastung aller Beteiligten kann man sich heute kaum vorstellen.
Führt man sich die Zeitläufe vor Augen, dann hätten es die Untergetauchten beinahe geschafft. Denn am 06. Juni 1944 waren die Alliierten in der Normandie gelandet. Anne und die anderen erfuhren davon, als sie abends Radioberichte hörten. Im Versteck lebend verbotene Radiosender hören, war mit Sicherheit besonders riskant.
Am 04. August 1944 wurden die Menschen im Hinterhaus verhaftet. Bis heute kann man nur vermuten, wieso das passierte. Vielleicht sind sie zufällig entdeckt worden. Vielleicht aber hat auch jemand etwas gemerkt und sie an die Behörden verraten. Klopfend verschafften sich die Männer Einlass in das Versteck. Mit einem Lastauto wurden alle in die Warmoestraat gebracht und kamen von dort auf einem der Transporte ins Lager Westerbork. Von dort aus wurden sie nach Auschwitz deportiert. Bei der Ankunft im Lager Auschwitz-Birkenau war die Familie noch zusammen gewesen. Doch dort trennten sich ihre Wege.
Anne und Margot wurden nach Bergen-Belsen gebracht. Dort waren sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf sich allein gestellt. Die Verhältnisse im Lager waren katastrophal. Die beiden Mädchen fühlten sich verlassen und hatten keine Ahnung, was mit ihren Eltern passiert war. Ständiger Hunger und mangelhafte hygienische Verhältnisse zerrten an ihrer körperlichen Widerstandskraft und ließen sie schwer krank werden. Margot und Anne sind in Bergen-Belsen in wenigen Tagen Abstand an Fleckfieber gestorben. Keiner weiß mehr den genauen Tag im März 1945. Zusammen mit vielen anderen wurde ihr Leben ausgelöscht. Doch Anne gehört zu denen, die nicht vergessen sind. Anders als bei den meisten 14/15jährigen blieben Erinnerungen zurück. Sie helfen, dass Menschen, die Anne nie gekannt haben, heute noch an sie denken. Solange man sich an einen Menschen erinnert, ist er nicht wirklich gestorben.
Es gibt Annes Tagebuch: gedruckt, verfilmt und sogar als Musical bearbeitet. Die Anne-Frank-Stiftung und das Anne-Frank-Zentrum in Berlin haben eine Ausstellung konzipiert, die unter dem Motto: „Anne Frank, eine Geschichte für heute“ schon an vielen Orten im In- und Ausland zu sehen war.
Neulich konnte man in einigen Zeitungen lesen, dass der Baum im Hof des An-ne-Frank-Hauses doch noch gerettet werden konnte. Eine weitere Erinnerung an Anne Frank bleibt bestehen. Am 12. Juni 2009 hätte sie ihren 80. Geburtstag feiern können. Vielleicht wäre sie dann eine bekannte Schriftstellerin. Das war nämlich einer ihrer größten Wünsche, als sie seinerzeit ein Tagebuch führte und kleine Geschichten zu Papier brachte.