Gedenkbuch 2013

Alfred Goldsteen und seine Familie

Sofie Sequeira, Übach-Palenberg

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Foto: Alfred Goldsteen (privat)

Alfred Goldsteen wurde am 6. Februar 1906 in Kohlscheid, das heute zur Stadt Herzogenrath gehört, als ältester Sohn von George Goldsteen und Carolina Goldsteen, geborene Mendel, geboren. Carolina Mendel stammte aus Tetz bei Linnich, ihr Mann George war in Amsterdam geboren. Nach der Hochzeit hatte das Ehepaar Goldsteen in Kohlscheid in der Südstraße 46 ein Stoffgeschäft eröffnet. Am 1. Juli 1908 wurde der zweite Sohn Carl geboren.

1909 oder 1910 zog die Familie nach Rheydt um, wo Lina Goldsteen, wie Carolina meist genannt wurde, wiederum ein Stoff- und Hutgeschäft führte, zunächst in der Hauptstraße 36 , später in der Hauptstraße 60. Die Söhne gingen dort in eine – vermutlich katholische – Volksschule, bis Carl als Jude nach einem Zwischenfall ausgegrenzt wurde. Daraufhin schickten die Eltern ihre Jungen in die Jüdische Volksschule. In Rheydt wurde am 9. Juli 1918 der dritte Sohn Frederik geboren. Im Jahre 1919 verkaufte Lina ihr Geschäft, welches allerdings unter ihrem bekannten und bewährten Namen weitergeführt wurde , und die Familie genehmigte sich einen längeren Urlaub, um sich von der Spanischen Grippe zu erholen.

Im Jahr 1920 zog die Familie nach Aachen in die Arndtstraße 30. Von 1920 bis 1923 besuchte Alfred die Hindenburg-Oberrealschule in der Vinzenzstraße, der heutigen Karmanstraße, in Aachen, die Vorläuferschule des heutigen Couven-Gymnasiums.

Da zu dieser Zeit jüdische Jugendliche am gesellschaftlichen Leben der Christen nicht immer teilnehmen konnten, bildeten Alfred und sein Bruder Carl zusammen mit anderen jüdischen Jugendlichen den "Bund jüdischer Schüler und Schülerinnen". So machten sie zum Beispiel gemeinsame Ausflüge in die Eifel. In der Aachener Zeit beteiligte sich Vater George Goldsteen am Schuhgroßhandel seines in Vaals lebenden Bruders Felix, dessen drei Kinder auch in Aachen geboren waren. Vom 1. August 1923 bis zum 1. Juli 1925 arbeitete Alfred beim Ford-Händler Cappel & Co in Aachen.

Doch aufgrund der Inflation ging der Schuhgroßhandel seines Vaters bankrott, und so zog die Familie im Jahr 1926 nach Vaals, wo Alfreds Vater eine Wechselstube an der Grenze zu Aachen errichtete.

Alfred musste in den Niederlanden seinen Militärdienst ableisten, was er jedoch nicht an einem Stück tat, da er die Möglichkeit hatte, diesen in kleineren Zeiteinheiten zu absolvieren. Als er seinen Militärdienst auf diese Weise abgeleistet hatte, stellte er sich noch als Freiwilliger zur Verfügung bis zu seiner offiziellen Wiedereinberufung, als die Niederlande wegen der drohenden deutschen Invasion 1939 die Generalmobilmachung ausriefen. In den Niederlanden hatte Alfred Goldsteen unterschiedliche Anstellungen. Meistens waren es Verkaufstätigkeiten. In Rotterdam arbeitete er in einem Motorradgeschäft, in Amsterdam verkaufte er im Geschäft eines Onkels Schallplatten, und in Nijmegen arbeitete er für eine Firma, welche 78rpm-Aufnahmen herstellte.

Am 27. November 1935 heiratete Alfred in Den Haag Tine Hoen. Sein Schwiegervater stellte ihn nun in seiner privaten Krankenversicherungsgesellschaft an. Dort arbeitete er, bis sein Schwiegervater ihn entlassen musste, da die Gesetze der deutschen Besatzer es verboten, dass ein „arischer" Betrieb Juden beschäftigte. Ab dem 1. September 1941 hatte Alfred auch einen Ausweis mit dem großen „J", welches ihn als Jude brandmarkte, wie es gemäß der deutschen Anordnung vom 3. Juli 1941 vorgeschrieben war. Arbeitseinsatz und Deportation blieben Alfred zunächst erspart, da seine Frau keine Jüdin war. Inzwischen hatte er angefangen, für den Untergrund zu arbeiten, um Verstecke für Juden und Nicht-Juden ausfindig zu machen.

Um mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen zu können, brauchte er jedoch einen gefälschten Ausweis, welcher ihn nicht als Jude kennzeichnete. Er bekam ihn von einem alten Armeekameraden, und ein jüdischer Fotograf versah den Ausweis mit Alfreds Foto.

Am 14. Februar 1944 wurde er im Zug nach Amsterdam von zwei niederländischen Nazis in Begleitung eines deutschen Soldaten kontrolliert, und einem der Niederländer fiel auf, dass der Ausweis gefälscht war. Er stellte Alfred unter die Bewachung des deutschen Soldaten und setzte seine Kontrolle im Zug fort. Der Soldat sagte: „Ich würde dich gehen lassen, aber diese zwei verdammten Nazis…" Alfred Goldsteen musste die Nacht in einer Amsterdamer Polizeistation zubringen.

Am nächsten Tag wurde er von zwei niederländischen Polizeibeamten zu dem Haus seiner Schwiegereltern in Den Haag gebracht, wo seit Januar auch seine Frau wohnte. Er durfte ein paar persönliche Sachen mitnehmen und sich verabschieden, ehe die Polizisten ihn dann zum Gefängnis nach Scheveningen, dem so genannten „Oranje Hotel" brachten, wo festgestellt wurde, dass er Jude war.

Sechs Wochen nach seiner Inhaftierung wurde er in das Übergangslager Westerbork verbracht, wo er bis September 1944 blieb, bis er mit dem letzten Zug von diesem Lager nach Auschwitz deportiert wurde. Von Auschwitz aus wurde er am oder um den 25. Januar 1945 herum evakuiert und zum Konzentrationslager Mauthausen bzw. dessen Nebenlager Gusen gebracht. Dort arbeitete er für die Firma Messerschmidt, da er angegeben hatte, dass er Autoschlosser und –mechaniker sei. Das war er zwar nicht, aber er war sehr geschickt.

Da er an einem Hungerödem erkrankte, wurde er am 10. April 1945 auf die Krankenstation gebracht, wo er von dem ihn begleitenden Kapo beinahe zu Tode geprügelt wurde. Als entdeckt wurde, dass er noch lebte, injizierte ihm ein polnischer Mithäftling Luft, wodurch er fast augenblicklich starb. Ob dies in Gusen oder in Mauthausen geschah, ist nicht ganz geklärt.

Während Vater George mit 56 Jahren 1934 eines natürlichen Todes in Lutterade, heute ein Teil Geleens, in den Niederlanden, starb, sind dessen sieben Geschwister alle in Konzentrationslagern ermordet worden, ebenso seine Frau Carolina, die am 22. Oktober 1943 in Auschwitz vergast wurde. Sie kam an diesem Tag mit ihrer Schwiegertochter Elfriede Goldsteen, geborene Lebenstein, der Frau von Alfreds Bruder Carl, in Auschwitz an. Elfriede wollte sich vermutlich nicht von der alten Dame trennen und wurde mit nur 30 Jahren am selben Tag in Auschwitz vergast.

Carl Goldsteen hat dagegen durch große Hilfe von Niederländern überlebt. Carl, der nach einem schweren Autounfall lange leidend war, musste sich am 7. Juni 1939 wegen einer Tuberkulose in das Sanatorium in Laren in Nord-Holland begeben. Die Deutschen hatten befohlen, alle jüdischen Patienten nach Westerbork zu schicken. Als er das Sanatorium am 22. April 1943 verließ, dachte jeder, dass er auf dem Weg nach Westerbork sei. Eine der Krankenschwestern war jedoch im Widerstand und hatte es so arrangiert, dass er in ein Sanatorium nach Nijmegen gebracht wurde, wo sein Jude-Sein verheimlicht werden konnte.

Kurz zuvor hatten die Deutschen einige jüdische Patienten dieses Sanatoriums verhaftet und den leitenden Arzt gewarnt, dass, falls sie je nochmals einen Juden in seinem Haus fänden, sie ihn und seine gesamte Belegschaft deportieren würden. Beim Eintreffen von Carl Goldsteen entschied der Direktor, dass Carl kein Risiko darstelle, denn die Deutschen seien so überzeugt von der Wirksamkeit ihrer Drohung, dass sie niemals daran dächten, dass das Sanatorium das Verbot zum zweiten Mal brechen würde. Deshalb nahm er Carl auf.

Dieser blieb im Sanatorium, bis es wegen der herannahenden Front evakuiert wurde. Als der Krieg dann vorüber war, traute sich Carl der Belegschaft zu sagen, dass er Jude sei, und musste dann zu seinem großen Erstaunen erfahren, dass es alle schon längst gewusst hatten. Die Tatsache, dass er in diesem Sanatorium untergekommen war, war offenbar so unbemerkt von den Behörden geschehen, dass er bis 1989 noch im Gedenkbuch der Niederlande als vermisst bezeichnet wurde.

Der jüngste Bruder Frederik zog am 2. April 1937 zu seinem Bruder Alfred und dessen Frau Tine und besuchte dort die Schule von Radio Holland, da er Funker werden wollte. Im März 1942 zwangen die Nazis ihn, den Juden, sein Radiogeschäft zu schließen. Frederik fand Arbeit bei einem Unternehmen, das für das Bergwerk „Maurits" arbeitete. Auch er gehörte der Widerstandsbewegung an und wird deshalb auf einer Gedenktafel in Valkenburg genannt. Frederik kam unter nicht näher geklärten Umständen im August 1942 in Auschwitz ums Leben, nachdem er am 19. Mai 1942 nach Anschuldigungen durch einen NSBer von der niederländischen Polizei verhaftet worden war. Dieser NSBer hatte ihn beschuldigt, dass er Radiozubehör gefertigt habe. Auch seine Frau Elfriede, geborene Gans, wurde mit der gemeinsamen Tochter Carry von einem niederländischen Polizisten verhaftet, und er zwang sie in einen Bus einzusteigen. Auf dem Weg nach Maastricht erlaubte ihr aber ein deutscher Soldat auszusteigen, so dass beide überlebten.

Fotos: - Alfred Goldsteen - Alfred und George Goldsteen ca. 1912 - Carl Goldsteen am 17. September 1925 - Carolina Goldsteen, geborene Mendel - Alfred Goldsteen in den frühen 1920er Jahren - Carolina, Frederik und George Goldsteen am Strand - Hochzeit von Alfred Goldsteen und Tine Hoen am 27.11.1935 - Alfred Goldsteen übt mit dem neuen Armee-Motorrad während der Mobilmachung der Niederlande 1939 - Silberhochzeitsfeier von George und Carolina Goldsteen am 09.03.1930; vordere Reihe: Eddie Goldsteen, geboren am 23.02.1924 in Amsterdam, Sohn von Louis; Frederik Goldsteen, jüngster Sohn von George und Carolina Goldsteen; 2. Reihe: Emma Goldsteen-Hornberg, Frau von Felix Goldsteen, geboren am 29.12.1879 in Aachen, ermordet am 21.09.1942 in Auschwitz; Richard Goldsteen, geboren 06.11.1927 in Amsterdam, gestorben circa 2007, Sohn von Louis, auf dem Schoß seiner Mutter Katrien Goldsteen, nicht-jüdische Frau von Louis; Carolina Goldsteen-Mendel; George Goldsteen; Annie Goldsteen, Frau von Isidore, geboren am 08.03.1891 in Zaandam, gestorben in Amsterdam; 3. Reihe: Maurits Goldsteen, Georges Bruder, geboren am 23.02.1873 in Amsterdam, ermordet am 16.07.1943 in Sobibor; Felix Goldsteen, Georges Bruder, geboren am 06.05.1877 in Amsterdam, ermordet am 21.09.1942 in Auschwitz; Frieda Goldsteen, Tochter von Maurits und Eef Eisendraht, geboren am 04.09.1914, erschossen am 05.02.1943 während einer Razzia in Amsterdam; Louis Goldsteen, Georges Bruder, geboren am 16.01.1875 in Amsterdam, ermordet am 31.01.1944 in Auschwitz; Carl Goldsteen, zweiter Sohn von George und Carolina Goldsteen; Alex Goldsteen, Georges Bruder, geboren am 01.01.1882 in Amsterdam, ermordet am 21.09.1942 in Monowitz; Isidore Goldsteen, Georges Bruder, geboren am 19.08.1879 in Amsterdam, ermordet am 21.09.1942 in Auschwitz; Alfred Goldsteen. - Alfred und sein Sohn George Goldsteen 1943

Alle Fotos privat mit freundlicher Genehmigung von Dr. George Goldsteen, Australien.

Der Bericht stützt sich im Wesentlichen auf Mitteilungen von Dr. George Goldsteen, den Sohn von Alfred Goldsteen, sowie Erzählungen von dessen Onkel Carl Goldsteen. Das Material zusammen mit den Fotos hat Dr. George Goldsteen der Autorin zur Verfügung gestellt. Sowohl George als auch Lina werden im Rheydter Adressbuch von 1911 unter dieser Adresse geführt, George als Kaufmann, Lina mit der Bezeichnung „Modes" hinter ihrem Namen. Frederik erscheint auch als niederländisch „Frits". Auskunft durch das Stadtarchiv Mönchengladbach. Hierbei handelte es sich um Schallplatten mit einer Geschwindigkeit von 78 Umdrehungen pro Minute. So genannt, da in ihm vor allem niederländische Gefangene festgehalten wurden, welche ihrem Königshaus, dem Haus Oranje, gegenüber loyal geblieben waren. NSB = Nationaal-Socialistische Beweging, die niederländische Entsprechung zu den deutschen Nationalsozialisten