Gedenkbuch 2008

Fredy Hirsch

Alexander Lohe, Aachen

Eine kleine Gedenktafel erinnert am Gebäude der ehemaligen Schule in Theresienstadt an einen gebürtigen Aachener, Fredy Hirsch. Überlebende, die der Hölle des Ghettos und des Lagers Auschwitz-Birkenau entronnen sind und zum Zeitpunkt ihrer Befreiung noch Kinder oder Jugendliche waren, haben in Dankbarkeit dafür gesorgt, dass hier sein Name nicht vergessen wird. Doch welcher Lebensweg verbirgt sich hinter den dürren Angaben der Gedenktafel?

Am 11. Februar 1916 wurde Alfred Hirsch, den später alle nur Fredy nennen sollten, in der alten Kaiserstadt geboren. Er ist das zweite Kind des jüdischen Ehepaares Heinrich und Olga Hirsch, die in der Innenstadt eine kleine Metzgerei betrieben. Schon 1914 war sein älterer Bruder Paul zur Welt gekommen, der während der nationalsozialistischen Diktatur Deutschland verlassen konnte und ein angesehener Rabbiner in Buenos Aires wurde.

Beide Brüder waren führende Mitglieder des Jüdischen Pfadfinderbundes, der sich 1932 vor Ort gebildet hatte. Schon in dieser Zeit erwies sich Fredy Hirsch als herausragender Sportler, der mit Erfolg Gymnastik, Speerwurf und Geräteturnen betrieb. Vor dem Hintergrund des sich in der deutschen Gesellschaft verstärkenden Antisemitismus hielten die jüdischen Pfadfinder ihre Mitglieder zu einem bewussten, offensiv vertretenen Judentum an. Eine Position, die in der dezidiert liberal orientierten Aachener Synagogengemeinde, in der es auch assimilatorische Tendenzen gab, nicht überall auf Gegenliebe stieß. Fahrten ins Zeltlager, Geländeübungen, Mutproben, lange Märsche, eine geradezu soldatische Disziplin gehörten zum Programm des Jüdischen Pfadfinderbundes.

Prag

Nach kurzer Zwischenstation in Düsseldorf und Frankfurt, gelang Fredy Hirsch schließlich 1935 die Flucht in die Tschechoslowakei, zunächst nach Brünn, später nach Prag. Viele der tschechischen Juden waren in der deutschen Sprachkultur verwurzelt, was seine Wahl des Zufluchtslandes beeinflusst haben dürfte, sprach er doch auch später die tschechische Sprache nicht besonders gut. In Prag nahm Fredy Hirsch sofort Kontakt mit der dort tätigen jüdischen Pfadfinderorganisation Makkabi Hazair auf und trat dem Turnverein Makkabi bei, der in der Altstadt Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung bot. Dank seiner organisatorischen Fähigkeiten avancierte Fredy bald zu dessen Leiter. Als exzellenter Turner bewundert, aufgrund seiner unerschrockenen Haltung geachtet, als Idealist, der bei Kerzenschein Rilkes „Weise von Liebe und Tod“ rezitierte, zeigte er persönliches Charisma.

Mit der Besetzung Tschechiens 1938 durch die Deutschen wurden Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden auch in Prag wirksam: Ausgrenzung, Erniedrigung und Entrechtung; der staatlich organisierter Terror traf sie mit voller Härte. Rasch verloren sie den bisherigen sozialen Lebenszusammenhang, eine Reihe fürsorglicher Aufgaben musste fortan von den jüdischen Gemeinden wahrgenommen werden. Besondere Bedeutung kam dabei der zionistischen Bewegung zu, der sich Fredy Hirsch zugewandt hatte. Sie bemühte sich, das schwierige Alltagsleben der jüdischen Gemeinschaft zu organisieren und half bei der Vorbereitung einer Auswanderung nach Palästina. Fredy Hirsch wurde Leiter des Referates für Körperkultur innerhalb der Selbstorganisation der Jüdischen Gemeinde Prag. Ab August 1940 war sie die einzige Einrichtung, die sich überhaupt noch mit Angelegenheiten der Juden in Böhmen und Mähren befassen durfte. Mithin war er der Verantwortliche für alle Fragen des Sports und der Sporterziehung. In seinen Erziehungsidealen bekannte er sich zur zionistischen Idee. Gemeinschaftssinn, Disziplin und Kenntnisse jüdischer Geschichte, schließlich Hebräisch als der Sprache, „die die einzige Sprache unseres Volkes werden muß“, waren die Eckpfeiler seines Erziehungsprogramms.

Theresienstadt

1941 allerdings wurde die Auswanderung auf Befehl Himmlers verboten, stattdessen beschlossen die Deutschen, die im Protektorat lebenden Juden in Theresienstadt zu konzentrieren. Die zionistischen Führer in Prag wussten am Anfang nicht, welch grausame Wirklichkeit in Theresienstadt aufgebaut werden sollte. Sie sahen in der Einrichtung des Ghettos einen Erfolg ihrer Bemühungen, dass die Juden – nachdem die Auswanderung unmöglich war – im sogenannten Protektorat bleiben konnten. Zusammen mit anderen Führungspersonen der zionistischen Bewegung in Prag kam Fredy Hirsch am 04. Dezember 1941 in Theresienstadt an. Durch seine Arbeit in Prag in den engeren Führungskreis der Juden in Tschechien aufgerückt, wurde er Mitglied des sogenannten Ältestenrates in Theresienstadt und übernahm die Organisation des Erziehungswesens. Es war maßgeblich seine Initiative, die Kinder und Jugendlichen innerhalb des Lagers Theresienstadt in Jugendheimen zusammenzufassen und jeder Gruppe einen Leiter zu geben, der für sinnvolle Beschäftigung sorgte. Fredy organisierte den Unterricht und Möglichkeiten zu sportlichen Aktivitäten. Im Chaos entfesselter Inhumanität boten die Jugendheime den Jugendlichen eine Alltagsstruktur, Orientierung und Ordnung, auch konnten sie Gemeinschaftsgefühl vermitteln und boten mitunter Schutz.

Ein besonderes Ereignis beendete den Aufenthalt Fredy Hirschs in Theresienstadt. Am 24. August 1943 traf ein Transport 1260 verwahrloster Kinder aus Bialystok ein. Verschüchtert und stumm, viele barfuß, alle in jämmerlichen Fetzen gekleidet und halb verhungert, wurden sie streng isoliert von den anderen Gefangenen, niemand durfte sich ihnen nähern. In einem abgeschirmten Bereich wurde das provisorisch eingerichtete Kinderlager von Gendarmen bewacht. Pfleger und ein Arzt wurden aus dem Ghetto geholt, die die Versorgung der Kinder übernahmen, aber nicht mehr ins Ghetto zurückkehren durften. Von den Deutschen wurden die Kinder für einen geplanten Austausch von Kriegsgefangenen benötigt. Dramatische Szenen spielten sich ab, als die Kinder zum Duschen ins Bad geführt werden sollten. Sie weigerten sich, die Duschen zu betreten, schrieen „Nicht, nicht, Gas!“ Sie hatten die Ermordung ihrer Eltern mit eigenen Augen gesehen und wussten anscheinend um die Vernichtungslager. Entgegen aller Verbote begab sich Fredy Hirsch zu diesen Kindern, die später, als der beabsichtigte Austausch nicht zustande kam, in die Vernichtung deportiert wurden. Er wurde verhaftet und am 06. September 1943 nach Auschwitz deportiert.

Führer des Familienlagers in Auschwitz 5006 Juden aus Theresienstadt wurden mit diesem Transport nach Auschwitz gebracht. Sie erwartete dort ein ungewöhnliches, besonders tragisches Schicksal. Sie wurden nicht selektiert, behielten ihr Gepäck, ihre Haare wurden nicht geschnitten. Sie wurden in einem eigenen Lagerabschnitt untergebracht, innerhalb dessen sie sich frei bewegen konnten. Sie erhielten sogar Schreibbewilligung und konnten mit den Freunden und Angehörigen in Theresienstadt korrespondieren.

Direkt nach der Ankunft begann Fredy Hirsch, innerhalb des Familienlagers seine Erziehungs- und Jugendarbeit wieder aufzunehmen. Er erreichte, dass die Kinder über acht Jahre in einem Block zusammengelegt wurden, der Appell innerhalb des Blocks abgehalten werden konnte und der Block – als einziger – in Auschwitz geheizt wurde. Mit Hilfe von weiteren Erziehern organisierte Fredy Hirsch ein Unterrichts- und Freizeitprogramm. So wurden Spielzeuge gebastelt, die im Rahmen kleiner Ausstellungen sogar der SS vorgeführt wurden und das Märchen Schneewittchen wurde als Theaterstück aufgeführt – eine Oase der Humanität in der Wüste der Brutalität. Fredy Hirsch wurde zum anerkannten Führer des Familienlagers. Dabei dürfte er sich spätestens in Auschwitz keine Illusionen mehr über den Charakter des Lagers gemacht haben. Jeder in Auschwitz wusste, dass dies ein Vernichtungslager ist – vermutlich auch die älteren Kinder.

Die Untergrundbewegung in Auschwitz und Tod Als gesichert kann gelten, dass Fredy Hirsch zur Untergrundbewegung in Auschwitz gehörte, die einen Aufstand plante. Das Sonderkommando, also Häftlinge, die an den Gaskammern und in den Krematorien direkt arbeiteten, hatten in Erfahrung bringen können, dass auf dem Verzeichnis des Theresienstädter Transportes der Vermerk „SB (Sonderbehandlung) – sechs Monate Quarantäne“ stand. Dies konnte nur bedeuten, dass die Ermordung der Mitglieder des Familienlagers nach einem halben Jahr erfolgen sollte. Als nun das Ablaufen der Frist näher rückte und die Untergrundbewegung Indizien wahrnahm, die auf eine größere Vergasung hindeuteten, soll Fredy Hirsch zugesagt haben, den Widerstand mitzuorganisieren. Geplant war, die Baracken in Brand zu stecken und damit den Häftlingen in anderen Lagerabschnitten das Signal zum Aufstand zu geben.

Doch die ursprünglichen Aufstandspläne zerschlugen sich. Kurz vor Ablauf der 6-Monats-Frist, Anfang März, wurden die Mitglieder des Septembertransportes aufgefordert, Postkarten an Angehörige in Theresienstadt zu schreiben – vordatiert auf den 25. März 1943. Es sollte der Eindruck erweckt werden, es ginge der Gruppe gut. Doch Fredy Hirsch versteckte eine Botschaft in seinem Text und schrieb: Wir sind zusammen mit Robert Mavet. Mavet ist das hebräische Wort für Tod.

Am 07. März wurde die Gruppe aus dem Familienlager in einen benachbarten Lagerbereich gebracht. Um keine Unruhe in der Gruppe auszulösen, täuschte man sie mit dem Versprechen, sie würden zu einem Arbeitseinsatz ins Reichsinnere gebracht. Währendessen forcierte die Untergrundleitung ihre Vorbereitungen für einen Aufstand und ließ Fredy Hirsch mitteilen, dass er die Leitung des Aufstandes im Familienlager übernehmen solle. Doch dieser reagierte darauf mit großer Unruhe. Immer wieder fragte er nach, was im Falle eines Aufstandes mit den Kindern geschehen sollte. Schließlich bat Fredy um eine Stunde Bedenkzeit. Man sollte ihn erst im Todeskampf wiederfinden. Er hatte Gift geschluckt. So geschwächt, wurde er am Abend des 8. März 1943 mit 3791 anderen in die Gaskammer abtransportiert. Durch den Selbstmordversuch unterblieb der Aufstand. Doch zeigten die Opfer der Mordtat ein letztes Zeichen ihres Widerstandes: Im Angesicht des Todes sangen sie die tschechische Nationalhymne und die Hatikwa, die Hymne der Zionisten, die heute die Nationalhymne des Staates Israel ist.

Bis heute ist der Tag der Ermordung der Opfer des Theresienstädter Familienlagers für die Jüdische Gemeinde Prag ein Trauertag. In Aachen beginnt man gerade erst, sich an Fredy Hirsch zu erinnern. Das Bemühen darum sollte verstärkt werden, damit der Name dieses charismatischen Jugendführers vor dem zweiten Tod durch Vergessen bewahrt bleibt.